Die Scham

– das vergessene Gefühl

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Scham ist eins der vergessenen, fast schon verschwiegenen Gefühle. Dabei löst Scham wahnsinnig viel aus. Und vielleicht kann man sogar sagen, dass dich nichts so gut von deinem Kurs abbringen kann, wie die Scham. Schamgefühle werden häufig in der Lebensgeschichte ganz früh erlernt. Wenn ich mich an den Ursprung meiner Schamgefühle erinnere, dann lande ich zwangsläufig im schulischen Sportunterricht. Ich bin noch zu einer Zeit zur Schule gegangen, in der Sportlehrer noch aus der Prägung des Dritten Reiches kamen oder zumindest aus der ersten Zeit der Bundeswehr und hatten dementsprechend teilweise ganz bestimmte Vorstellungen.

Da war ein Sportlehrer, welcher der Meinung war, dass wir alle von einem 5-Meter-Turm springen müssen – ob du wolltest oder nicht. Hochgetrieben wurdest du von ihm und du hattest wenig Möglichkeiten, dich dagegen zu entscheiden. Er stand an der Treppe, sodass dir nichts anderes übrigblieb als weiter hochzugehen und deine Angst mit einem Sprung zu überwinden. Der einzige Ausweg war es, wieder herunterzuklettern und dich vor den Augen der ganzen Klasse, die in Reih und Glied am Beckenrand saßen, zu blamieren.

Der ein oder die andere von euch kennen vielleicht das Gefühl, im Sportunterricht dazustehen und als Letzter gewählt zu werden – oder möglicherweise gar nicht gewählt zu werden. Auch das erzeugt Scham. Dazustehen und zu spüren, nicht gewollt zu sein. Ein, im Sportunterricht vielleicht heute noch häufig verbreitetes Phänomen.

 

Wie entsteht die Scham?

Scham hat als Allererstes etwas mit Anerkennung zu tun. Wenn wir missachtet werden, löst dies Scham aus. Wenn wir irgendwo nicht dazugehören, obwohl wir denken oder wollen, dass wir dazugehören, löst dies ebenfalls Scham aus. Umgangssprachlich sagen wir, wenn jemand nicht dazugehören soll, dass er „geschnitten“ wird oder dass wir „jemanden schneiden“. Wenn wir geschnitten werden, heißt das nichts anders, als dass uns Anerkennung versagt wird.

Zu Scham gehört jedoch nicht nur die Anerkennung, sondern auch das Gefühl von Zugehörigkeit. Beispielsweise kann es in Firmen schnell passieren, dass jemand ausgegrenzt und gemobbt wird. In jeder Firma gibt es Regeln und kleine Geheimnisse, es reicht schon zu sagen: „Ich mache da lieber nicht mit“ – schon bist du untendurch und gegebenenfalls ein Mobbingopfer. Nicht dazuzugehören ist etwas, das massiv Scham auslöst. Menschen, die Behinderungen haben, Menschen, die in Krisensituationen sind – spüren immer wieder die Blicke der anderen auf sich.

 

Scham ist die Verletzung von Intimität

Ein weiterer Aspekt von Scham ist Intimität sowie der Schutz von Intimität. Wenn du jemanden wirklich verletzen willst, wenn du ihn in seine Scham treiben willst, dann veröffentliche irgendetwas von ihm, was peinlich ist.

Damit möchte ich niemanden auffordern, ein solches Verhalten an den Tag zu legen. Vielmehr musste Ich genau das in der Schule erleben, als ich aus Unachtsamkeit ein Wort falsch geschrieben habe. Es war im umgangs- und jugendsprachlichen Stil absolut üblich, statt „eben“ „ebend“ zu sagen. Das war ein Modegeck und ich habe diesen in eine Klassenarbeit hineingeschrieben. Tatsächlich war es dann so, dass mein Lehrer diesen Fehler vor der gesamten Klasse offenbarte. Er nahm mein Heft und sagte: „Guckt mal, was der Frank hier geschrieben hat“. Und ich weiß noch, wie ich Puterrot angelaufen bin und mir das unendlich peinlich war. Ich habe mich wirklich zutiefst geschämt, weil mich dieser Lehrer vor der gesamten Klasse so bloßgestellt hatte.

Eine frühere pädagogische Regel besagte sogar: Wenn du Unruhe in der Klasse hast, stell einen Schüler bloß und schon läuft der Laden wieder. Ich hoffe stark, dass das heute nicht mehr der Fall ist.

In einer Firma und vor allem als Führungskraft ist es ein wichtiger Aspekt darauf zu achten, dass man Menschen nicht bloßstellt und außerdem darauf Acht gibt, die Integrität und Intimität eines Menschen zu wahren. Denn die Integrität ist ja auch dann nicht gewahrt, wenn wir das Gefühl haben, uns selbst etwas schuldig zu bleiben. In Situationen, in denen wir keinen Mut oder vielleicht sogar Angst haben, kann es so auch vorkommen, dass wir uns zur Wehr setzen.

 

Menschen brauchen Schutz

Das waren jetzt eine ganze Reihe an Beispielen, wie Scham entstehen und wie man sich ins Schämen hineingetrieben fühlen kann, sich selbst dort hineinbegibt oder -katapultiert. Jetzt stellt sich die Frage, wie man dies verhindern kann? Was kann man tun, damit Menschen sich nicht schämen müssen? Man kann genau diese genannten Punkte wieder aufgreifen – das Gegenüber mit Respekt, Achtung, Schutz und mit der Wahrung seiner Intimität behandeln.

Wenn man beispielsweise als Führungskraft die Integrität von Menschen wirklich bewahrt, generiert man am Ende einen höheren und nachhaltigeren Gewinn. Dies wirkt sich positiv auf die Ökonomie der gesamten Firma und des Teams aus, anstatt auf einen kurzfristigen Lacher zu setzen. Menschen brauchen einen grundlegenden Schutz sowie das Gefühl dazuzugehören. Wenn man von einer Gesellschaft umgeben ist, in der man permanent das Gefühl hat, nicht dazuzugehören – braucht man jemanden, der für einen eintritt.

Man selbst kann, trotz möglicher Angstgefühle, versuchen zu lernen, auch über Scham zu sprechen. Vielleicht bespricht man dieses Thema erstmal im vertrauten Freundeskreis oder in einer vertrauten Beziehung. Der Austausch über die Scham bringt inneres Wachstum und löst ein Gefühl von Verbundenheit aus. Dadurch gelingt es dem Gegenüber, sich in deine Situation hineinzuversetzen und bekommen mit, wie sich jemand mit etwas tiefgründig auseinandersetzt und dies sogar nach Außen trägt. Das ist ein erster Schritt, um auf Kurs zu bleiben.